Du sitzt auf der Couch, Netflix läuft, und plötzlich merkst du, dass deine Finger schon wieder über dein Gesicht wandern. Eine kleine Unebenheit. Ein winziger Pickel. Du weißt genau, dass du ihn in Ruhe lassen solltest. Aber deine Finger drücken trotzdem. Und drücken. Und kratzen. Zehn Minuten später ist aus dem kleinen Pickel eine blutige Wunde geworden, deine Fingernägel sind rot, und du starrst in den Spiegel mit diesem vertrauten Mix aus Panik und Scham. Morgen schwörst du dir – wieder mal –, dass du es nie wieder tust. Spoiler: Du wirst es trotzdem tun.
Falls dir das bekannt vorkommt, bist du definitiv nicht allein. Was viele für eine nervige Angewohnheit halten oder als „Ich bin halt ein bisschen perfektionistisch“ abtun, kann tatsächlich eine ernsthafte psychische Störung sein. Die Rede ist von Dermatillomanie, auch bekannt als Skin-Picking-Störung oder Exkoriationsstörung. Und bevor du jetzt denkst „Na ja, jeder drückt mal einen Pickel aus“ – nein, das hier ist eine ganz andere Liga.
Skin Picking ist nicht einfach nur Pickel ausdrücken
Dermatillomanie gehört zu einer Gruppe von Störungen, die Fachleute als körperbezogene repetitive Verhaltensweisen bezeichnen – auf Englisch Body-Focused Repetitive Behaviors oder kurz BFRBs. Es sind Verhaltensweisen, die du immer und immer wieder ausführst, obwohl du weißt, dass sie dir schaden. Dermatillomanie wird dem Zwangsspektrum zugeordnet, teilt sich also gewisse Eigenschaften mit klassischen Zwangserkrankungen, ist aber eine eigenständige Diagnose.
Laut MSD Manual, einer der wichtigsten medizinischen Referenzen weltweit, beschreibt man Dermatillomanie als wiederholtes Manipulieren der eigenen Haut, das zu sichtbaren Hautschäden führt. Betroffene kratzen, drücken, zupfen oder knibbeln an ihrer Haut – oft stundenlang, manchmal vor dem Spiegel, manchmal völlig automatisch beim Fernsehen oder Arbeiten. Das Ergebnis? Wunden, Narben, Infektionen, Verfärbungen. Und eine Menge emotionaler Verzweiflung.
Wie viele Menschen haben das eigentlich?
Die genauen Zahlen schwanken je nach Studie, aber Schätzungen gehen davon aus, dass die Störung einen relevanten Anteil der Bevölkerung betrifft – in der Fachliteratur werden oft Raten im niedrigen einstelligen Prozentbereich genannt. Das klingt vielleicht nicht nach viel, aber rechne mal hoch: In Deutschland könnten das Hunderttausende bis über eine Million Menschen sein. Und die Dunkelziffer? Wahrscheinlich noch deutlich höher, weil sich viele aus Scham nicht trauen, darüber zu sprechen oder Hilfe zu suchen.
Interessanterweise beginnt die Störung häufig in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter. Frauen sind in klinischen Studien deutlich häufiger betroffen als Männer – ob das an biologischen Faktoren liegt, an unterschiedlichen Bewältigungsstrategien oder schlicht daran, dass Frauen eher professionelle Hilfe suchen, ist noch nicht abschließend geklärt.
Warum zum Teufel machen Menschen das?
Die Antwort ist komplizierter als „weil sie masochistisch veranlagt sind“ oder „weil sie nicht genug Selbstdisziplin haben“. Tatsächlich steckt ein ziemlich heimtückischer psychologischer Mechanismus dahinter, den Experten als negative Verstärkung bezeichnen.
So funktioniert die Spirale: Ein Trigger – das kann Stress, Langeweile, Angst oder einfach das Gefühl einer rauen Hautstelle sein – erzeugt innere Anspannung. Diese Anspannung fühlt sich unerträglich an. Das Skin Picking verschafft dann kurzfristig Erleichterung. Dein Gehirn registriert: „Hey, das hat funktioniert! Wenn ich gestresst bin, macht Kratzen es besser.“ Und schon ist eine automatisierte Gewohnheitsschleife geboren.
Das Problem? Die Erleichterung hält nur Sekunden bis Minuten an. Danach kommen Schuldgefühle, Scham, Frustration – was wiederum neue Anspannung erzeugt. Und der Kreislauf beginnt von vorne. Es ist wie bei einer Sucht: Der kurze Kick wird immer kürzer, aber der Drang wird stärker.
Viele Betroffene beschreiben einen fast tranceähnlichen Zustand während des Skin Pickings. Sie verlieren das Zeitgefühl, sind hochkonzentriert auf die Haut und merken oft gar nicht, wie viel Zeit vergeht oder wie viel Schaden sie anrichten – bis sie aufhören und die Realität sie wie ein Vorschlaghammer trifft.
Die emotionale Achterbahn: Dermatillomanie kommt selten allein
Hier wird es noch komplizierter: Dermatillomanie tritt häufig zusammen mit anderen psychischen Störungen auf. Fachportale wie die der Barmer und AOK sowie spezialisierte Behandlungszentren wie KIRINUS berichten übereinstimmend, dass die Störung oft gemeinsam mit Depressionen und Angststörungen auftritt. Das bedeutet nicht zwingend, dass das eine das andere verursacht, aber die Überschneidung ist auffällig.
Bei manchen Betroffenen finden sich in der Vorgeschichte auch belastende oder traumatische Erfahrungen – aber Vorsicht: Das ist nicht bei allen der Fall. Dermatillomanie kann jeden treffen, auch Menschen ohne traumatische Vergangenheit. Für diejenigen, die zusätzlich mit emotionalen Baustellen kämpfen, kann das Skin Picking allerdings eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie sein – ein verzweifelter Versuch, mit überwältigenden Gefühlen umzugehen.
Die Scham-Spirale
Eines der grausamsten Elemente von Dermatillomanie ist die soziale Isolation. Viele Betroffene verstecken ihre Haut unter langen Ärmeln, dickem Make-up oder Verbänden. Sie erfinden Ausreden, warum sie nicht ins Schwimmbad gehen oder warum sie beim Date einen Rollkragenpullover tragen. Die Scham ist oft so überwältigend, dass Betroffene nicht mal ihren engsten Freunden oder der Familie davon erzählen.
Und dann kommt noch das Stigma dazu: „Hör doch einfach auf“ oder „Reiß dich zusammen“ sind Sätze, die Betroffene ständig hören. Das ist ungefähr so hilfreich wie jemandem mit Depression zu sagen „Sei doch einfach mal fröhlich“ oder jemandem mit Diabetes „Produzier doch einfach mehr Insulin“. Es zeigt nur, wie wenig verstanden wird, dass es sich hier um eine psychische Störung handelt, nicht um mangelnde Willenskraft.
Wann ist es mehr als nur eine nervige Angewohnheit?
Okay, jetzt mal ehrlich: Wer hat nicht schonmal einen Pickel ausgedrückt oder an einer Hautstelle herumgefummelt? Der entscheidende Unterschied zwischen einer harmlosen Angewohnheit und einer Störung liegt in mehreren Faktoren. Das MSD Manual und andere Fachquellen nennen Kriterien wie Zeitaufwand, Kontrollverlust, sichtbare Schäden, Leidensdruck und sozialen Rückzug als wichtige Anhaltspunkte.
Verbringst du täglich viel Zeit damit, deine Haut zu bearbeiten? Sprechen wir von Minuten oder eher von Stunden? Hast du schon oft versucht aufzuhören, aber es klappt einfach nicht? Fängst du an, obwohl du dir fest vorgenommen hast, es zu lassen? Hinterlässt dein Verhalten deutliche Wunden, Narben oder Verfärbungen auf der Haut? Fühlst du dich danach schlecht, schuldig oder beschämt? Beeinträchtigt es dein Selbstwertgefühl massiv? Meidest du bestimmte Situationen – Schwimmbad, Dates, Vorstellungsgespräche – weil du deine Hautschäden verstecken willst?
Wenn du bei mehreren dieser Punkte nickst, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass hier mehr im Spiel ist als nur eine nervöse Angewohnheit. Und genau dann wird es Zeit, professionelle Unterstützung zu suchen – nicht weil du schwach bist, sondern weil Dermatillomanie eine echte psychische Störung ist, die man behandeln kann und sollte.
Die körperlichen Folgen sind brutal real
Neben den psychischen Belastungen gibt es auch handfeste körperliche Konsequenzen. Durch das ständige Manipulieren der Haut können sich Wunden infizieren. Es können dauerhafte Narben entstehen, die selbst mit medizinisch-kosmetischen Verfahren schwer zu behandeln sind. Manche Betroffene fügen sich so starke Verletzungen zu, dass sie medizinische Versorgung brauchen – Antibiotika, Wundversorgung, manchmal sogar chirurgische Eingriffe.
Und das alles passiert nicht, weil diese Menschen „sich nicht im Griff haben“ – sondern weil ihr Gehirn in einer dysfunktionalen Schleife gefangen ist, aus der sie ohne professionelle Hilfe nur schwer herauskommen.
Die gute Nachricht: Es gibt wirksame Therapien
Jetzt kommt endlich die hoffnungsvolle Wendung: Dermatillomanie ist behandelbar. Es gibt wissenschaftlich erprobte Therapieansätze, die vielen Betroffenen nachweislich helfen. Der Goldstandard ist die kognitive Verhaltenstherapie, oft kombiniert mit einer speziellen Technik namens Habit-Reversal-Training.
Habit-Reversal-Training – kurz HRT – ist im Grunde ein strukturiertes Programm, um die automatisierte Gewohnheitsschleife zu durchbrechen. Der Ansatz wurde in mehreren Studien untersucht. Eine wichtige deutschsprachige Arbeit von Moritz und Kollegen aus dem Jahr 2012 konnte zeigen, dass selbst Selbsthilfeprogramme mit HRT-Elementen zu einer signifikanten Symptomreduktion führen können.
Das Training besteht aus mehreren Komponenten. Erstens: Du lernst, deine Trigger zu identifizieren. Was löst den Drang aus? Ist es eine bestimmte Tageszeit, eine emotionale Situation, ein spezieller Ort? Zweitens: Du machst ein Awareness-Training – du lernst, den Moment zu erkennen, in dem der Impuls aufkommt, bevor du automatisch reagierst. Und drittens: Du übst konkurrierende Reaktionen ein – alternative Verhaltensweisen, die du stattdessen ausführen kannst. Zum Beispiel: Hände zur Faust ballen, einen Stressball kneten, kaltes Wasser über die Handgelenke laufen lassen.
Klingt simpel? Ist es absolut nicht. Es erfordert Übung, Geduld und oft therapeutische Begleitung. Aber es funktioniert – und das ist wissenschaftlich belegt.
Können Medikamente helfen?
In manchen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. Das MSD Manual erwähnt, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer – also bestimmte Antidepressiva – bei einigen Betroffenen hilfreich sein können, besonders wenn gleichzeitig Depressionen oder Angststörungen vorliegen. Auch die Aminosäure N-Acetylcystein, kurz NAC, wurde in Studien untersucht. Eine randomisierte, placebokontrollierte Studie von Grant und Kollegen aus dem Jahr 2016 zeigte, dass NAC im Vergleich zu Placebo zu einer signifikanten Reduktion der Skin-Picking-Symptome führte.
Wichtig: Medikamente sind kein Wundermittel und bei weitem nicht für alle Betroffenen geeignet. Sie sollten immer in Absprache mit einem Facharzt und idealerweise begleitend zu Psychotherapie eingesetzt werden – nicht als Ersatz.
Praktische Strategien für den Alltag
Während professionelle Hilfe oft unverzichtbar ist, gibt es auch praktische Alltagsstrategien, die das Leben mit Dermatillomanie erleichtern können. Gesundheitsportale wie die der AOK und Barmer sowie spezialisierte Fachstellen listen eine Reihe evidenzbasierter Tipps auf.
Wenn deine Hände etwas zu tun haben, können sie nicht gleichzeitig an deiner Haut herumfummeln. Fidget-Toys, Stricken, Origami, ein Stressball – alles, was die Finger beschäftigt, kann helfen. Klingt banal, funktioniert aber überraschend gut. Wenn du vor allem vor dem Spiegel zum Skin Picking neigst, kannst du Spiegel abdecken oder das Licht im Badezimmer dimmen. Wenn es beim Fernsehen passiert, zieh Handschuhe oder ein langärmliges Shirt an. Manche Betroffene kleben sogar Pflaster über die Fingerkuppen.
Dokumentiere, wann, wo und in welchen Situationen du zum Skin Picking neigst. Oft zeigen sich Muster, die du vorher nicht bewusst wahrgenommen hast. Zum Beispiel: Immer nach stressigen Arbeitstagen. Immer wenn du dich einsam fühlst. Immer in diesem einen Raum mit dem großen Spiegel. Eine regelmäßige, sanfte Hautpflege-Routine hilft manchmal – nicht um die Haut perfekt zu machen, sondern um einen bewussteren, fürsorglicheren Umgang mit dem eigenen Körper zu entwickeln. Es geht darum, die Haut zu pflegen statt sie zu attackieren.
Das klingt vielleicht esoterisch, ist aber psychologisch fundamental. Studien zu Selbstmitgefühl zeigen, dass eine weniger selbstkritische Haltung mit geringerem Schamniveau und besserem psychischem Wohlbefinden verbunden ist. Statt dich nach jeder Episode fertigzumachen, versuche dir selbst mit Mitgefühl zu begegnen: „Ich hatte einen Rückfall, weil mein Gehirn in einer dysfunktionalen Schleife gefangen ist – und das ist okay. Ich arbeite daran.“ Diese Haltung reduziert nachweislich Scham und die Wahrscheinlichkeit weiterer Episoden.
Falls du jemanden kennst, der betroffen sein könnte
Vielleicht hast du beim Lesen nicht an dich selbst gedacht, sondern an jemanden in deinem Umfeld – einen Freund, ein Familienmitglied, einen Partner. Wie solltest du reagieren?
Erstens: Keine gut gemeinten „Hör einfach auf“-Ratschläge. Die bringen nichts und verstärken nur die Scham. Zweitens: Zeige Verständnis. Ein einfaches „Ich habe gelesen, dass das eine echte psychische Störung sein kann. Brauchst du Unterstützung?“ kann Welten bedeuten. Drittens: Biete konkrete Hilfe an – zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapeuten oder bei der Recherche nach Selbsthilfegruppen. Und viertens: Sei geduldig. Heilung braucht Zeit, und Rückfälle sind normal.
Die wichtigste Botschaft: Du bist nicht kaputt
Dermatillomanie ist eine reale, ernstzunehmende psychische Störung, die das Leben der Betroffenen massiv beeinträchtigen kann. Sie ist keine Charakterschwäche, keine Phase und kein Zeichen von mangelnder Willenskraft. Sie gehört zum Zwangsspektrum, ist oft verbunden mit anderen psychischen Belastungen und folgt einer heimtückischen neurologischen Logik, die sich ohne Hilfe nur schwer durchbrechen lässt.
Aber sie ist behandelbar. Kognitive Verhaltenstherapie, Habit-Reversal-Training, in manchen Fällen medikamentöse Unterstützung und praktische Alltagsstrategien können einen enormen Unterschied machen. Unzählige Menschen haben es geschafft, die Kontrolle über ihr Verhalten zurückzugewinnen und ein Leben mit deutlich weniger Leidensdruck zu führen.
Wenn du selbst betroffen bist: Du bist nicht allein. Es gibt Hilfe, es gibt Verständnis, und es gibt einen Weg raus aus dieser Spirale. Der erste Schritt ist oft der schwerste – aber er ist es wert. Sprich mit deinem Hausarzt, suche einen Psychotherapeuten, wende dich an Fachstellen. Du verdienst ein Leben, in dem deine Hände nicht mehr deine Feinde sind.
Und falls du jemanden kennst, der betroffen sein könnte: Zeige Mitgefühl, biete Unterstützung an und hilf dabei, das Stigma zu durchbrechen. Denn je mehr wir über Dermatillomanie sprechen, desto mehr Menschen werden den Mut finden, sich Hilfe zu holen. Und genau das kann Leben verändern.
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