Du sitzt im Meeting, deine Präsentation war ein Volltreffer, der Chef nickt anerkennend – und du? Du denkst nur: „Puh, nochmal Glück gehabt. Beim nächsten Mal fliegt die Sache auf.“ Wenn dir das bekannt vorkommt, bist du nicht allein. Das Impostor-Phänomen oder Hochstapler-Syndrom trifft tatsächlich bis zu 70 Prozent aller Menschen mindestens einmal im Leben. Die Psychologen Jaruwan Sakulku und James Alexander haben 2011 diese erstaunliche Zahl präsentiert – und damit ein Phänomen ins Rampenlicht gerückt, das erfolgreiche Menschen seit Jahrzehnten heimlich quält.
Das Verrückte dabei? Es trifft nicht die Versager oder Faulpelze. Nein, es sind gerade die Leistungsträger, die Erfolgreichen, die Menschen mit beeindruckenden Lebensläufen, die nachts wach liegen und sich fragen, wann endlich jemand merkt, dass sie keine Ahnung haben. Paradox? Absolut. Aber genau deshalb müssen wir darüber reden.
Was zum Teufel ist das Impostor-Phänomen überhaupt?
Bevor wir zu den Warnsignalen kommen, lass uns klären, womit wir es hier zu tun haben. Das Impostor-Phänomen – oft fälschlicherweise als Impostor-Syndrom bezeichnet – ist kein medizinisches Krankheitsbild. Du findest es nicht im internationalen Verzeichnis der Krankheiten. Es ist vielmehr ein psychologisches Muster, eine kognitive Verzerrung, bei der dein Gehirn einen unfairen Trick anwendet: Erfolge? Die waren Glück, Zufall oder gutes Timing. Misserfolge? Die sind natürlich komplett deine Schuld und der ultimative Beweis deiner Unfähigkeit.
Die Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes haben dieses Phänomen 1978 erstmals beschrieben, als sie mit erfolgreichen Akademikerinnen arbeiteten. Diese Frauen hatten beeindruckende Abschlüsse und Karrieren vorzuweisen, waren aber innerlich überzeugt, ihre Erfolge nicht verdient zu haben. Mittlerweile wissen wir: Das betrifft alle Geschlechter, alle Altersgruppen und alle Branchen. Je nach Studie und untersuchter Gruppe erleben zwischen 9 und 82 Prozent der Befragten diese quälenden Selbstzweifel.
Besonders spannend wird es bei einer KPMG-Studie zu weiblichen Führungskräften: 75 Prozent gaben an, in ihrer Karriere mit Impostor-Gefühlen gekämpft zu haben. Das ist keine Randerscheinung – das ist die Mehrheit der erfolgreichen Frauen in Führungspositionen.
Die Warnsignale, die du nicht übersehen solltest
Jetzt wird es konkret. Wie erkennst du, ob dich dieses Phänomen gerade sabotiert? Die Forschung hat einige typische Muster identifiziert, die wie rote Flaggen sein sollten.
Du spielst jeden Erfolg sofort herunter
Jemand lobt deine Arbeit und deine sofortige Reaktion ist: „Ach, das war doch nichts Besonderes“ oder „Das hätte jeder hinbekommen“? Willkommen beim klassischsten Warnsignal überhaupt. Menschen mit Impostor-Gefühlen haben eine geradezu olympiareife Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen Leistungen zu minimieren. Der Chef lobt das Projekt? War nur Teamarbeit. Die Präsentation kam gut an? War halt ein guter Tag. Die Beförderung? Hatten wohl niemand Besseren gefunden.
Das Problem ist nicht nur die falsche Bescheidenheit. Jedes Mal, wenn du einen Erfolg nicht als deinen eigenen anerkennst, verpasst du die Chance, echtes Selbstvertrauen aufzubauen. Du sammelst keine inneren Beweise für deine Kompetenz – und ohne diese Beweise bleibt die Angst, als Hochstapler entlarvt zu werden, bestehen.
Die Angst vor dem Scheitern frisst dich auf
Wir reden hier nicht von normaler Nervosität vor einer Prüfung. Wir reden von der tiefsitzenden, lähmenden Panik, dass dieser eine Fehler dich als den Betrüger entlarven wird, der du „eigentlich“ bist. Diese Angst ist besonders heimtückisch, weil sie meist komplett unbegründet ist. Die Forschung zeigt nämlich etwas Faszinierendes: Menschen mit stark ausgeprägten Impostor-Gefühlen sind oft objektiv überdurchschnittlich kompetent.
Diese chronische Angst führt zu einem erschöpfenden Kreislauf. Du arbeitest bis zur totalen Erschöpfung, um bloß keinen Fehler zu machen. Der Erfolg stellt sich ein, aber du schreibst ihn der Überarbeitung zu, nicht deinen Fähigkeiten. Also musst du beim nächsten Mal wieder überarbeiten. Und wieder. Und wieder. Die Verbindung zu Burnout ist hier kein Zufall – permanente Überkompensation ist der direkte Weg in die totale Erschöpfung.
Perfektionismus ist deine zweite Natur geworden
Wenn „gut genug“ in deinem Wortschatz nicht existiert und du stundenlang an Details feilst, die außer dir niemand bemerken wird, haben wir ein Problem. Perfektionismus und das Impostor-Phänomen sind beste Freunde. Die Logik dahinter ist verführerisch einfach: Wenn du etwas perfekt machst, kann niemand deine vermeintliche Unfähigkeit entdecken.
Nur ist dieser Perfektionismus niemals zufriedenstellend. Egal wie makellos etwas wird, dein innerer Kritiker findet garantiert noch einen Fehler. Und selbst wenn nicht – der Erfolg wird ja wieder dem enormen Aufwand zugeschrieben, nicht deinen tatsächlichen Fähigkeiten. Es ist ein Teufelskreis, der dich emotional und körperlich auslaugt, ohne jemals das zu liefern, was du suchst: die innere Gewissheit, dass du gut genug bist.
Neue Chancen? Nein danke, zu riskant
Beförderung ausgeschlagen? Spannende Projekte abgelehnt? Dich gar nicht erst auf Positionen beworben, für die du eigentlich perfekt qualifiziert wärst? Menschen mit ausgeprägten Impostor-Gefühlen sabotieren regelmäßig ihre eigene Karriere, weil sie überzeugt sind, beim nächsten Level zu versagen.
Der Psychologe Joel Lane hat 2015 herausgefunden, dass besonders junge Erwachsene und Menschen in Übergangsphasen anfällig sind. Neuer Job, Führungsposition, Branchenwechsel – genau die Momente, in denen du wachsen könntest, werden zu angstbesetzten Gefahrenzonen. Stattdessen bleibst du lieber in deiner Komfortzone, wo du dich sicher fühlst, aber auch nicht weiterentwickeln kannst.
Du vergleichst dich permanent mit anderen – und verlierst immer
Social Media hat das Impostor-Phänomen nicht erfunden, aber es definitiv auf ein neues Level gehoben. Wenn du ständig deine Leistungen mit denen anderer vergleichst und dabei natürlich immer schlechter abschneidest, ist das ein massives Warnsignal. Die Erfolge der anderen sind Beweis ihrer Kompetenz, deine eigenen aber purer Zufall.
Besonders interessant: Die Psychologen Joyce Ehrlinger und David Dunning haben festgestellt, dass Frauen sich tendenziell mit objektiv besseren Vergleichspersonen messen, während Männer eher zu Abwärtsvergleichen neigen. Das verstärkt natürlich die Impostor-Gefühle bei Frauen zusätzlich – sie vergleichen sich systematisch mit Menschen, die ihnen überlegen sind, und fühlen sich dann unzulänglich.
Warum trifft es ausgerechnet die Kompetenten?
Hier wird es richtig spannend: Das Impostor-Phänomen ist nicht zufällig verteilt. Die Forschung hat mehrere Faktoren identifiziert, die dich anfälliger machen. Deine Kindheit spielt eine entscheidende Rolle. Wenn du in einem Umfeld aufgewachsen bist, in dem Leistung übermäßig betont wurde, in dem Geschwister ständig verglichen wurden oder in dem Liebe und Anerkennung an Erfolge gekoppelt waren, hast du möglicherweise gelernt, dass dein Wert von Leistungen abhängt – und dass diese Leistungen nie ausreichen.
Auch Minderheitenstatus verstärkt diese Gefühle massiv. Wenn du in deinem Arbeitsumfeld aufgrund von Geschlecht, Ethnizität oder anderen Merkmalen zur Minderheit gehörst, fühlst du dich möglicherweise tatsächlich „anders“ als die Mehrheit. Dein Gehirn interpretiert dieses „anders sein“ dann fälschlicherweise als „weniger zugehörig“ oder „weniger kompetent“.
Die Altersforschung zeigt ebenfalls interessante Muster. Junge Erwachsene sind besonders anfällig für Impostor-Gefühle, weil sie noch keine lange Erfolgsbilanz aufgebaut haben. Neue Lebensabschnitte, in denen du dich noch nicht bewiesen hast, sind perfekter Nährboden für Selbstzweifel.
Was diese Gefühle mit deinem Leben anstellen
Die Auswirkungen des Impostor-Phänomens gehen weit über unangenehme Gefühle hinaus. Die Forschung zeigt klare Verbindungen zu ernsthaften psychischen Belastungen. Chronischer Stress ist dabei nur der Anfang. Studien haben Zusammenhänge mit Depressionen, Angststörungen und dem gefürchteten Burnout gefunden.
Aber es geht nicht nur um deine mentale Gesundheit. Das Impostor-Phänomen bremst aktiv deine Entwicklung. Du nimmst Chancen nicht wahr, die dir zustehen. Du forderst nicht die Anerkennung ein, die du verdienst. Du verhandelst miserabel bei Gehaltsgesprächen, weil du heimlich denkst, du solltest einfach dankbar sein, dass sie dich überhaupt haben wollen.
Es gibt auch einen dokumentierten Geschlechteraspekt: Während beide Geschlechter Impostor-Gefühle erleben können, zeigen Studien, dass Frauen häufiger ihre Kompetenz unterschätzen, während Männer eher dazu neigen, sie zu überschätzen. Das hat reale, messbare Konsequenzen für Karriereverläufe, Gehaltsunterschiede und Aufstiegschancen.
Der Weg raus aus der Hochstapler-Falle
Jetzt die gute Nachricht: Das Impostor-Phänomen ist kein festgeschriebenes Schicksal. Die Tatsache, dass du diesen Artikel liest und dich in den Beschreibungen wiedererkennst, ist bereits ein wichtiger Schritt. Die Forschung zeigt deutlich, dass allein das Bewusstsein und die Benennung des Phänomens therapeutisch wirksam sind. Wenn du verstehst, dass deine Gefühle ein weit verbreitetes psychologisches Muster sind und nicht die Realität deiner Fähigkeiten widerspiegeln, verlieren sie bereits an Macht über dich.
Es gibt standardisierte Fragebögen wie die Clance Impostor Phenomenon Scale, mit denen du die Ausprägung deiner Impostor-Gefühle messen kannst. Diese Tools helfen dabei, das diffuse, unangenehme Gefühl in etwas Greifbares zu verwandeln, mit dem du konkret arbeiten kannst.
Ein weiterer entscheidender Schritt ist das Sammeln von konkretem Feedback. Nicht das oberflächliche Lob, das du sowieso sofort wegrationalisierst, sondern spezifische, detaillierte Rückmeldungen zu deinen Fähigkeiten. Bitte Mentoren, Kollegen oder Vorgesetzte um ehrliche Einschätzungen. Führe ein Erfolgsjournal, in dem du dokumentierst, was du tatsächlich erreicht hast – mit konkreten Beweisen, die dein Gehirn später nicht so leicht wegdiskutieren kann.
Das Wichtigste aber ist: Sprich darüber. Einer der Hauptgründe, warum das Impostor-Phänomen so hartnäckig ist, liegt in der Isolation. Jeder denkt, er sei der einzige Hochstapler im Raum, während in Wahrheit fast alle im Raum dasselbe denken. Wenn du anfängst, offen über deine Selbstzweifel zu sprechen, wirst du überrascht sein, wie viele Menschen – oft gerade die, die du für absolut selbstsicher hältst – sich darin wiedererkennen.
Deine Gefühle lügen dich an
Hier ist die unbequeme Wahrheit, die du verinnerlichen musst: Deine Gefühle über deine Kompetenz sind oft ein miserabler Indikator für deine tatsächliche Kompetenz. Dein Gehirn erzählt dir Geschichten, die sich wahr anfühlen, aber auf massiven kognitiven Verzerrungen basieren.
Das nächste Mal, wenn du einen Erfolg herunterspielst oder vor einer neuen Herausforderung in Panik erstarrst, halte kurz inne. Frage dich: Ist das eine überprüfbare Tatsache oder nur ein Gefühl? Würde ich einen guten Freund in der gleichen Situation genauso hart bewerten? Die Antwort ist fast immer nein.
Das Impostor-Phänomen lebt von der Stille, von der heimlichen Angst, von dem Glauben, du seiest allein mit deinem vermeintlichen Betrug. Aber du bist nicht allein – 70 Prozent der Menschen kennen dieses Gefühl. Du bist nicht inkompetent – die Forschung zeigt, dass gerade kompetente Menschen betroffen sind. Und deine Erfolge sind verdient – auch wenn sich dein Gehirn gerade mit aller Macht dagegen sträubt.
Diese Warnsignale zu erkennen ist nur der Anfang. Sie zu verstehen, offen darüber zu sprechen und aktiv dagegen zu arbeiten – das ist der Weg heraus. Ja, das erfordert Arbeit und Geduld. Aber weißt du, was noch anstrengender ist? Ein ganzes Leben lang gegen dich selbst zu kämpfen, während du eigentlich genau da sein könntest, wo du hingehörst – nämlich unter den Menschen, die ihre Erfolge anerkennen und weiter wachsen, statt sich selbst kleinzumachen.
Wenn du dich in diesem Artikel wiedererkannt hast: Gratulation zur Selbsterkenntnis. Jetzt ist es an der Zeit, diese Selbstzweifel nicht länger als unveränderliche Wahrheit zu akzeptieren, sondern als das zu sehen, was sie wirklich sind – ein psychologisches Phänomen, das verstanden, benannt und überwunden werden kann. Deine Erfolge sind echt. Deine Fähigkeiten sind real. Und es wird Zeit, dass du das endlich glaubst.
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