Der Job als Beziehungskiller? Warum manche Arbeitsumgebungen deine Treue auf eine harte Probe stellen
Es ist Mitternacht, und Lisa sitzt allein auf der Couch. Ihr Partner Tom, Notfallsanitäter, ist schon wieder in der dritten Nachtschicht diese Woche. Wenn er morgens nach Hause kommt, muss sie bereits zur Arbeit. Ihre Kommunikation? WhatsApp-Nachrichten und ein müdes „War dein Tag okay?“ zwischen Tür und Angel. Währenddessen verbringt Tom seine Schichten mit seiner Kollegin Anna, mit der er Leben rettet, Krisensituationen durchsteht und über Dinge spricht, die sonst niemand wirklich verstehen kann. Klingt nach einer Situation, die nicht gut enden kann? Genau das ist es auch.
Aber bevor jetzt alle in Panik verfallen: Nein, nicht jeder Sanitäter oder jede Krankenschwester betrügt automatisch. Die Sache ist komplizierter und gleichzeitig faszinierender. Die Forschung zeigt nämlich etwas Überraschendes: Es ist nicht der Jobtitel, der Menschen untreu macht – es sind bestimmte Arbeitsbedingungen, die ein perfektes Umfeld für Seitensprünge schaffen. Und das hat weniger mit Moral zu tun als mit Psychologie, die wir alle verstehen sollten.
Die unbequeme Wahrheit über Beruf und Treue
Im Internet findet man überall Listen mit den „untreuesten Berufen“. Piloten, Ärzte, Barkeeper, Models – die Rankings variieren je nach Quelle. Aber hier kommt der Reality-Check, den niemand hören will: Es gibt keine belastbare wissenschaftliche Studie, die eindeutig einen bestimmten Beruf als „den untreuesten“ identifiziert. Die meisten dieser Listen stammen von Dating-Portalen oder Seitensprung-Websites, die ihre Mitglieder befragt haben. Wissenschaftlich sind diese Umfragen etwa so aussagekräftig wie dein Horoskop.
Was die ernsthafte Forschung jedoch eindeutig zeigt, ist etwas anderes: Eine umfassende Masterarbeit der Universität Graz aus dem Jahr 2019 belegt, dass Stress erhöht Untreue-Risiko, ebenso wie Überlastung und emotionale Distanz zum Partner. Wenn dann noch intensive Nähe zu Kollegen hinzukommt, entsteht eine explosive Mischung. Eine repräsentative Umfrage von Parship aus dem Jahr 2019 untermauert das: Satte 66 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre beruflichen Ambitionen ihre Beziehung beeinflussen. Das Problem ist also real – nur anders, als die Clickbait-Überschriften suggerieren.
Die vier Faktoren, die deine Beziehung in Gefahr bringen
Lass uns das auseinandernehmen. Was macht bestimmte Arbeitsumgebungen so gefährlich für Beziehungen? Es ist eine Kombination aus vier psychologischen Mechanismen, die zusammen ein perfektes Sturmsystem bilden.
Faktor Eins: Wenn die Zeit miteinander verschwindet
Lange und irreguläre Arbeitszeiten sind Gift für Beziehungen. Wenn einer nachts arbeitet, während der andere schläft, wenn Wochenenden zur Arbeitszeit werden und gemeinsame Abendessen zur Ausnahme, dann schrumpft die emotionale Verbindung. Nicht dramatisch und nicht über Nacht – sondern schleichend, wie ein Muskel, der nicht mehr trainiert wird. Die Forschung ist hier glasklar: Weniger gemeinsame Zeit bedeutet weniger emotionalen Austausch, weniger körperliche Nähe und mehr Gereiztheit.
In Schichtberufen wie der Pflege, Gastronomie oder bei der Polizei ist dieses Muster besonders ausgeprägt. Du kommst erschöpft nach Hause, während dein Partner gerade sein wichtiges Meeting hatte – aber ihr seid beide zu müde, um wirklich zuzuhören. Die Gespräche werden oberflächlicher, die Intimität nimmt ab. Und genau in dieser Phase wird man anfälliger für Menschen, die einem das geben, was zu Hause gerade fehlt: echte Aufmerksamkeit.
Faktor Zwei: Wenn Stress die Beziehung auffrisst
Hier wird es psychologisch richtig spannend. Chronischer Stress ist nicht nur schlecht für deine Gesundheit – er ist absolutes Gift für deine Beziehung. Warum? Weil Stress deine Fähigkeit reduziert, empathisch zu sein, dich in deinen Partner hineinzuversetzen und emotional präsent zu sein. Du funktionierst im Überlebensmodus, und in diesem Modus gibt es keinen Raum für tiefe Verbindung.
Die Forschung nennt das „paarexterner Stress, der zu paarinternem Stress wird“. Klingt kompliziert, ist aber total einleuchtend: Der Druck im Job frisst deine Beziehungsressourcen auf. Du hast keine Energie mehr für Zärtlichkeit, für tiefe Gespräche, für Problemlösung. Stattdessen schnauzt ihr euch wegen Kleinigkeiten an – weil der eigentliche Stressor, nämlich der Job, nicht direkt angreifbar ist.
Und jetzt kommt der Knackpunkt: Wenn deine Grundbedürfnisse nach Nähe, Anerkennung und Gesehen-Werden in der Partnerschaft frustriert sind, steigt die Attraktivität alternativer Bindungsquellen. Die nette Kollegin, die versteht, was du durchmachst. Der sympathische Kollege, der dir das Gefühl gibt, kompetent und wichtig zu sein. Plötzlich findest du dort die emotionale Bestätigung, die zu Hause verloren gegangen ist.
Faktor Drei: Die unterschätzte Macht gemeinsamer Krisen
Jetzt kommt die wahrscheinlich am meisten unterschätzte Dynamik ins Spiel: der Proximity-Effekt. Vereinfacht bedeutet das: Häufiger Kontakt mit denselben Menschen steigert automatisch Vertrautheit und Sympathie. Aber wenn dieser häufige Kontakt auch noch mit geteilten Krisenerlebnissen, gemeinsamen Erfolgen und emotionalen Gesprächen kombiniert wird, potenziert sich der Effekt.
In Berufen wie der Notfallmedizin, bei Feuerwehr und Rettungsdiensten, aber auch in der Gastronomie während eines stressigen Service entsteht ein „Wir-gegen-den-Rest-der-Welt“-Gefühl. Ihr meistert zusammen Situationen, die andere nicht verstehen können. Ihr seht euch in Momenten extremer Anspannung und Verletzlichkeit. Das schweißt zusammen – manchmal stärker, als einem lieb ist.
Die renommierte Paartherapeutin Esther Perel hat in ihrer Arbeit zu Affären etwas Faszinierendes herausgefunden: Menschen suchen in Seitensprüngen oft nicht primär Sex, sondern Lebendigkeit, Bestätigung und das Gefühl, gesehen zu werden. Genau das bietet eine intensive Arbeitsbeziehung unter Stress – ohne dass man es anfangs überhaupt als gefährlich wahrnimmt.
Faktor Vier: Wenn Geschäftsreisen zur Gefahrenzone werden
Wenn dein Job dich regelmäßig für Tage oder Wochen von zu Hause wegholt, kommen mehrere Risikofaktoren zusammen. Erstens: die räumliche Trennung selbst, die emotionale Entfremdung begünstigt. Zweitens: die Anonymität am Reiseort – niemand kennt dich, niemand kontrolliert dich, du bist aus deinen alltäglichen Rollen und Verpflichtungen herausgelöst. Und drittens: Oft reist du mit Kollegen, mit denen du dann abends an der Hotelbar sitzt, weil ihr sonst niemanden kennt.
In dieser Konstellation verschwimmen Grenzen besonders leicht. Was beginnt als „nur ein Drink nach dem Meeting“, kann sich über vertrauliche Gespräche und Flirt schnell zu mehr entwickeln. Das ist keine Entschuldigung für Untreue, aber eine psychologische Erklärung dafür, warum bestimmte Situationen riskanter sind als andere.
Der Selbstbetrug: Wie wir uns selbst austricksen
Hier wird es richtig interessant: Die meisten Menschen, die eine Affäre beginnen, sehen sich selbst nicht als „Betrüger“. Wie geht das zusammen? Die Antwort liegt in einem psychologischen Mechanismus namens kognitive Dissonanz und dem Phänomen der schleichenden Grenzverschiebung.
Es beginnt harmlos: „Wir sind doch nur Kollegen.“ Dann wird es: „Wir verstehen uns halt gut.“ Dann: „Es ist schön, dass jemand mir wirklich zuhört.“ Und irgendwann: „Es ist nur ein harmloses Mittagessen – eine Umarmung, die etwas zu lange dauert – ein Text, der etwas zu persönlich ist.“ Jede einzelne Grenzüberschreitung ist klein genug, um sie innerlich zu rechtfertigen. Aber zusammengenommen verschieben sie die Grenzen so weit, dass plötzlich etwas passiert, das man selbst nie für möglich gehalten hätte.
Unter Belastung – und davon gibt es in den beschriebenen Berufen reichlich – funktioniert dieser Selbstbetrug besonders gut. Man ist müde, gestresst, emotional ausgelaugt und sucht nach Trost und Bestätigung. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur bewussten Grenzsetzung ist in solchen Momenten deutlich reduziert.
Welche Berufe kombinieren diese Risikofaktoren?
Auch wenn es keine wissenschaftliche Rangliste gibt, lassen sich aus der Forschung Berufsprofile ableiten, die mehrere der genannten Risikofaktoren kombinieren:
- Gesundheitsberufe: Ärzte, Pflegekräfte, Rettungsdienste arbeiten in Schichten, erleben gemeinsam existenzielle Momente, haben körperlichen Kontakt zu Patienten und Kollegen und stehen unter extremem emotionalem Druck. Die Kombination aus Lebensrettung und Todesnähe schafft intensive Bindungen im Team.
- Gastronomie und Hotellerie: Abend- und Nachtarbeit, wenn der Rest der Welt feiert. Nach der Schicht gemeinsam runterkommen. Ein enges Team-Gefühl und wenig Überschneidung mit dem normalen sozialen Leben des Partners.
- Luftfahrt: Piloten und Flugbegleiter sind tagelang unterwegs, übernachten gemeinsam in fremden Städten, erleben die Besonderheit des Fliegens zusammen und haben zu Hause oft das Gefühl, dass niemand ihre Lebensrealität wirklich versteht.
- Einsatzkräfte: Polizei, Feuerwehr, Militär – hier kommen alle Faktoren zusammen. Schichtdienst, Lebensgefahr, ein starkes Korps-Gefühl, körperliche Fitness als Teil der Berufsidentität und oft eine Kultur des „Wir verstehen uns, die anderen verstehen uns nicht“.
- Vertrieb und Beratung: Häufige Geschäftsreisen, Hotelübernachtungen, lange Abendessen mit Kollegen und Kunden. Erfolg und Misserfolg werden gemeinsam durchlebt.
Sind also alle in diesen Berufen untreu? Absolut nicht!
Und das ist der wichtigste Punkt. Untreue entsteht nie aus einem einzigen Grund – sie ist immer das Ergebnis einer Interaktion aus Persönlichkeitsfaktoren, Beziehungsqualität und äußeren Umständen. Es gibt Tausende von Pflegekräften, Piloten und Polizisten, die in langjährigen, glücklichen und treuen Beziehungen leben.
Was die Forschung zeigt, ist lediglich: Bestimmte Arbeitsbedingungen erhöhen das Risiko – so wie Rauchen das Lungenkrebsrisiko erhöht, ohne dass jeder Raucher Lungenkrebs bekommt. Es geht um Wahrscheinlichkeiten und Risikofaktoren, nicht um Determinismus oder moralisches Versagen. Die gute Nachricht? Wenn man diese Dynamiken versteht, kann man bewusst gegensteuern.
So schützt du deine Beziehung in risikoreichen Berufen
Bewusstsein ist der erste Schritt. Wenn du oder dein Partner in einem der beschriebenen Berufsfelder arbeitet, hilft es enorm, die psychologischen Mechanismen zu verstehen und proaktiv zu handeln. Rituale der Verbindung sind dabei essenziell: Wenn gemeinsame Zeit knapp ist, muss sie qualitativ hochwertig sein. Das kann ein festes wöchentliches Date sein, ein tägliches zehnminütiges Gespräch ohne Handy oder ein gemeinsames Frühstück am freien Tag. Wichtig ist, dass es verlässlich stattfindet und beiden Raum gibt, wirklich gesehen zu werden.
Über Arbeitsstress zu reden ist wichtig, aber wie man es tut, macht den Unterschied. Nicht nur berichten, was passiert ist, sondern teilen, wie es einem dabei geht. Der Partner braucht Zugang zu deiner emotionalen Welt, auch wenn er die konkreten Situationen nicht nachvollziehen kann. Gleichzeitig: Akzeptieren, dass man nicht alles verstehen muss, um empathisch zu sein.
Grenzen im Job bewusst zu setzen bedeutet nicht, unfreundlich zu Kollegen zu sein. Aber es bedeutet, sich bewusst zu machen, wann aus professioneller Nähe emotionale Intimität wird. Wenn du merkst, dass du einer Kollegin Dinge erzählst, die du deinem Partner verschweigst – roter Alarm. Die Beziehung darf nicht dem Autopiloten überlassen werden. In stressigen Lebensphasen ist die Versuchung groß, die Partnerschaft als „läuft ja irgendwie“ abzuhaken und sich auf Beruf und andere Verpflichtungen zu konzentrieren. Genau dann ist sie aber am verwundbarsten. Eine Beziehung braucht aktive Pflege – gerade, wenn es schwierig wird.
Professionelle Hilfe zu suchen, bevor es kracht, ist kluge Vorsorge. Paartherapie ist nicht nur für Krisen da. Viele Paare gehen präventiv, um Kommunikationsmuster zu verbessern und mit beruflichen Belastungen besser umzugehen. Das ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Reife.
Was das Ganze über moderne Beziehungen verrät
Die Forschung zu Untreue und Beruf zeigt etwas Fundamentales über moderne Beziehungen: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Partnerschaften automatisch funktionieren, nur weil wir uns lieben. In einer Welt, in der viele von uns mehr Zeit mit Kollegen als mit Partnern verbringen, in der Arbeit oft sinnstiftender und aufregender ist als der Alltag zu Hause, in der wir ständig Wahlmöglichkeiten haben und emotional aktiviert sind – in dieser Welt brauchen Beziehungen bewusste Aufmerksamkeit und Pflege.
Das ist anstrengend, ja. Aber es ist auch ermächtigend. Denn es bedeutet, dass wir nicht hilflose Opfer unserer Umstände sind. Wir können verstehen, welche Dynamiken unsere Beziehung gefährden, und aktiv Schutzfaktoren aufbauen. Wir können ehrlich mit uns selbst sein, wenn wir merken, dass Grenzen anfangen zu verschwimmen. Und wir können mit unserem Partner über diese Themen sprechen – bevor etwas passiert, das die Beziehung zerstört.
Die Tatsache, dass bestimmte Arbeitsbedingungen das Untreue-Risiko erhöhen, ist keine Entschuldigung für Betrug. Aber sie ist eine wichtige Information, die uns helfen kann, realistischer und gleichzeitig hoffnungsvoller auf unsere Beziehungen zu schauen. Nicht jeder Krankenpfleger wird seiner Partnerin untreu, nicht jede Flugbegleiterin betrügt ihren Mann – aber alle, die in diesen Berufen arbeiten, profitieren davon, die psychologischen Mechanismen zu kennen und bewusst mit ihnen umzugehen.
Es geht nicht darum, bestimmte Berufe zu meiden oder zu verteufeln. Es geht darum zu verstehen, dass Treue keine Charaktereigenschaft ist, mit der man geboren wird, sondern eine aktive Entscheidung, die man jeden Tag neu trifft – und die in manchen Kontexten mehr bewusste Anstrengung erfordert als in anderen. Und vielleicht ist genau diese Erkenntnis der beste Schutz, den wir unseren Beziehungen bieten können.
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